Was eine alte Taschenuhr erzählt

An einem sonnigen Spätnachmittag, gegen Ende Dezember 1936, genoss ein älterer Herr auf einer Parkbank am Isarufer in Nähe Landshut, die letzten Sonnenstrahlen. Der 71 Jahre alte Spitalinsasse unternahm einen kleinen Ausflug entlang der Isar. In einer Gaststätte, unweit des Rundwegs, ließ der Rentner einen Krug mit köstlichem Bier füllen, den er mit zur Parkbank nahm.

isarufer
Ein hochprozentiges Nahrungsmittel
Das bayerische Bier war in jener Zeit ein schmackhaftes dunkles Gebräu, das es in sich hatte. Von meiner Oma erfuhr ich, dass in diesen Zeiten nur dunkles Bier ausgeschenkt wurde, welches mit einem Alkoholgehalt von etwa 15% sogar stärker war, als das heutige Starbier. Sie erzählte, dass ihr Papa, der ältere Herr, immer nur aus seinem eigenen Maßkrug sein Bierchen trank und das gschmackige Nass gerne über den Durst genoss. So ist leicht anzunehmen, der ältere Herr begnügte sich wohl kaum mit nur einer Mass.

Vermutlich ließ er sich den Krug, nachdem er ihn leerte, noch einige Male in der nahe gelegenen Gasstätte füllen. Erst nach der letzten Füllung machte er es sich auf der Parkbank gemütlich, zündete sich ein Pfeifchen an und sinnierte vor sich hin.

Allmählich wurde es dunkel und nach dem letzten Schluck, verließ der ältere Herr die Parkbank. Bevor er in Richtung Heilig-Geist-Spital aufbrach, wollte er noch schnell in der Isar seinen Krug ausschwenken da aus einem gespülten Krug das Bier besser schmeckt.

Mit einem Räuscherl auf ein wackeliges Floß
Die Isar diente bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges noch zur gewerblichen Floßfahrt. Flöße waren beliebte Transportmittel, so war es auch kein Wunder, dass man sie abends am Ufer der Isar vereinzelt festgezurrt vorfinden konnte. Auch an der Stelle, an dem sich die Parkbank befand, ward ein Floß festgemacht, das für den nächsten Tag auf eine neue Ladung wartete. Er erblickte das "geparkte" Floß, das er als Steg zum Wasser der Isar benutze.

pressebericht
Auf diesem wackligem Untergrund wollte er seinen Krug auszuschwenken. Der Rentner balancierte auf dem Floß bis zum Rand, bückte sich mit seinem Krug in der Hand, bis weit zum Wasser hinab. Durch das schaukelnde Floß und vermutlich auch durch die Wirkung des Bieres, verlor er das Gleichgewicht und stürzte in die Isar.

Das Szenario wurde von einem Spaziergänger vom Uferweg der gegenüberliegenden Flussseite beobachtet. Die Strömung war allerdings so stark, dass selbst ein guter Schwimmer, ohne weitere Hilfe bzw. Sicherungsleine, keine Chance gehabt hätte, den Fluten zu trotzen. Der ältere Herr verschwand in den Fluten und wurde von der reißenden Isar einige Kilometer fortgeschwemmt. Erst nach drei Tagen fand man ihn, worauf seine sterblichen Überreste geborgen werden konnten.

Zu seinen Habseeligkeiten gehörte auch eine Taschenuhr, die jedoch ziemlich unter dem unfreiwilligen Bad litt. Die Zeiger lagen lose auf dem Zifferblatt, die Feder war gebrochen und das Werk setzte gehörig Rost an. Glas und Zifferblatt blieben wie durch ein Wunder unbeschädigt.

Andenken an meinem Urgroßvater
Ich fand die Taschenuhr im Nachlass meiner verstorbenen Mutter, zusammen mit einem Zeitungsausschnitt in einer kleinen Pappschachtel. Meine Mutter erhielt sie von meiner Großmutter, der Tochter von Josef Richter, dem älteren Herrn, den ich aber nie kennenlernte. Vorsichtig öffnete ich die zwei vorhandenen Gehäusedeckel der Uhr. Auf dem hinteren Deckel befinden sich einige Punzen. Während das Zeichen "0800" noch gut erkannt werden kann, sind ein Stempel und eine Beschriftung kaum mehr zu lesen. Auf dem zweiten Deckel, welcher das Werk schützt, befindet sich die Gravur "Cylinder 6 Steine". Aufgeklappt, wird die Gravur "METALL" sichtbar.

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Inst?ndsetzung der Taschenuhr
Anschließend verbrachte ich einige Stunden damit, die Taschenuhr gründlich zu reinigen. Mit Wattestäbchen und Rostlöser entfernte ich den Rost. Danach säuberte ich das Gehäuse, das Federhaus sowie das komplette Räderwerk. Vom Jahrhundertschmutz befreit, bekamen sämtliche Achsen der Räder einen Tropfen Waffenöl spendiert. Leider war die Aufzugsfeder gerissen, wodurch ein Uhrmacher noch Hand anlegen musste. Ein Uhrmachermeister setzte ein neues Federhaus ein und eichte die Hemmung, um eine einigermaßen gute Ganggenauigkeit der Uhr zu erreichen. Vom Uhrmacher erhielt ich noch eine schöne Holzschatulle, in der die Taschenuhr nun ein neues Zuhause hat. Hin und wieder ziehe ich sie auf, damit das Werk "am Leben" bleibt.
 
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